Steh auf, du Mädchen

Mücke war nicht gerade der geborene Frauenversteher. Sein großer Bruder, der auf der Hauptschule den liebevollen Beinamen »Schläger« hatte, redete über die Mädchen, mit denen er bisweilen Unaussprechliches trieb, in den üblichen Parametern maskuliner Dominanz, und auch Mücke fiel gegenüber der minderjährigen Weiblichkeit in unserem Umfeld selten etwas Freundlicheres ein, als ihr in der Schule nasse Schwämme ins Gesicht zu schleudern. Für Mücke waren bestimmte Dinge Naturgesetz. »Was glaubst du wohl«, käute er gern wieder, was sein Bruder irgendwo aufgeschnappt hatte, »wieso Frauen im Sport immer hinterherlaufen? Weil sie früher in der Höhle gehockt und aufs Feuer aufgepasst haben, während wir draußen Mammuts plattgemacht haben!«

»DU hast Mammuts plattgemacht?« Wenn Mücke neben seiner dreckigen Hose stand, konnte er kaum über die Gürtelschnalle gucken.

»Nicht persönlich! Aber meine Vorfahren, du Idi! Das steckt noch in den Genen!«

Wieso Mädchen und Frauen aber immer wieder eine dicke Lippe riskierten, wollte Mücke nicht in den Kopf. »Mein Bruder sagt, man kann sie einfach nicht verstehen, die Weiber. Und da hat er recht!«

Komplett mädchenfreie Zone war damals der Fußball. Mädchen duldeten wir höchstens als Zuschauerinnen, vor denen wir unsere kleinen Verletzungen maßlos übertrieben, um ihnen dann heldenhaft zu trotzen. In der Sportschau wurde damals am Samstagabend zwar nur von drei Spielen berichtet, aber die studierten wir ganz genau, nicht nur, was die Tore anging, sondern auch das korrekte Verhalten bei Fouls.

An einem sonnigen Nachmittag Mitte der Siebzigerjahre trat Mückes Verhältnis zu Mädchen in eine neue Phase ein. Wir pöhlten auf der Wiese vor der Schule am Springerplatz. Spüli, Pommes, Mücke und ich sowie zwei Jungs aus der Gegend, Michael und Rüdiger, Jungs, mit denen wir so wenig zu tun hatten, dass wir nicht mal Spitznamen für sie hatten. Plötzlich tauchte ein Mädchen mit einem Hund auf und sah uns zu. Der Köter war aus mehreren Rassen zusammengesetzt und hörte auf den bescheuerten Namen »Lord«. Ein paarmal verschwand er in einem nahen Gebüsch, und das Mädchen brüllte ihm ein »Lord, komm hierhin!« hinterher. Ansonsten hatte sie rote Haare und sah wohl nicht schlecht aus, aber es sollte noch ein, zwei Jahre dauern, bis uns das richtig interessierte.

Dass wir alle dennoch etwas mehr Körperspannung aufbauten, ist jedoch unstrittig. Die Diskussionen wurden hitziger, die Posen deutlicher ausgespielt. Da fiel man schon mal auf die Knie und vergrub das Gesicht in den Händen, wenn man freistehend vor dem Tor vergeben hatte, nach dem Motto: Normalerweise mache ich den rein! Bei tatsächlichen oder eingebildeten Fouls rollten wir ein bisschen auf dem Boden hin und her, fassten uns an den Knöchel, rappelten uns wieder auf, prüften die Standfestigkeit des lädierten Knochens - und stürzten uns mit dem Mute des echten Kämpfers wieder ins Geschehen. Von Mücke kriegten wir dann schon mal ein »Steh auf, du Mädchen!« reingedrückt. Na gut, er konnte sich das leisten, er hatte keine schlechte Ballbehandlung und war ein echter Dribbelprinz, auch wenn er den Ball nur ungern hergab, was die ganze Sache für seine Mannschaftskollegen bisweilen etwas langweilig machte. Unangenehm wurde es, wenn er den Torwart ausspielte, den Ball auf der Linie ablegte und sich auf die Knie fallen ließ, um ihn mit dem Kopf reinzuschieben. Warum nur gewinnen, wenn man auch demütigen kann!

Dann wurde Michael von seiner Mutter aus dem Spiel genommen, sodass wir nur noch zu fünft waren. Was jetzt? Pommes warf dem Mädchen am Spielfeldrand einen Blick zu, und Mücke raunte: »Denk nicht mal dran!«

»Wieso?«, gab Pommes zurück. »Ist zwar ein Mädchen, aber besser, als in Unterzahl zu spielen.«

»Hast du ne Ahnung!«, höhnte Mücke. »Die bricht sich doch die Beine! Ich spiele in der Zweier-Mannschaft, und dann ist es immer noch ungerecht.«

Wir anderen sahen das nicht so, also ging Pommes zu dem Mädchen hin und fragte, ob sie mitspielen wolle. Das Mädchen überlegte einen Moment und sagte dann: »Klar, wieso nicht! Lord, du bleibst hier sitzen!«

Da Mücke nicht dazu zu bewegen war, mit einem Mädchen in der Mannschaft zu spielen, gesellte sie sich zu Pommes und mir. Ich stand im Tor und sah gleich darauf Mücke, der natürlich auf dem Anstoß bestanden hatte, mit dem Ball am Fuß auf mich zukommen, warf mich ihm in Todesverachtung vor die Füße und versuchte, ihm den Ball vom Spann zu fischen, griff ins Leere und kriegte noch Mückes Stollenschuh an den Schädel. Mücke schob lässig ein und drehte jubelnd ab. Von der Defensivleistung meiner neuen Mitspielerin war ich nicht gerade angetan. Von Pommes erwartete ich sowieso nicht viel.

Pommes und das rothaarige Mädchen gingen zum Anstoßpunkt, das Mädchen spielte den Ball zu Pommes, der versuchte, sich gegen Spüli durchzutanken, blieb aber hängen. Spüli passte zu Mücke, und ich hatte wieder nichts zu halten.

»Nee, muss man sagen«, meinte Mücke, »ist ne echte Verstärkung, die Lady!«

Wieder gingen das Mädchen und Pommes zum Anstoßpunkt, diesmal aber spielten sie es umgekehrt: Pommes tippte den Ball an, das Mädchen spitzelte die Kugel Spüli durch die Beine und zog dann gleich ab. Rüdiger konnte nicht ausweichen und kriegte den Ball mitten ins Gesicht. Heulend wälzte er sich auf dem Boden.

»Steh auf, du Mädchen!«, rief Mücke. »Aber gute Parade!«

Mücke schnappte sich den Ball und setzte zu einem seiner berüchtigten Sololäufe an, und eines musste man ihm lassen: Er war ziemlich schnell. Das Mädchen machte sich gar nicht die Mühe, ihm zu folgen, und Pommes war kein gleichwertiger Gegner.

Ich jedoch war fest entschlossen, nicht auch noch das dritte Gegentor hinzunehmen, ohne ein einziges Mal am Ball gewesen zu sein. Diesmal blieb ich länger stehen, und als Mücke mir den Ball durch die Beine spielen wollte, kriegte ich sie schnell genug zusammen. Der Ball prallte von mir ab zu Pommes, der ihn zu dem Mädchen stocherte. Spüli griff an, den ließ sie aber mit einer gekonnten Körpertäuschung einfach stehen und lief auf das gegnerische Tor zu, wo Rüdiger mit gerötetem Gesicht auf sein Schicksal wartete. Doch statt einfach draufzuhalten und zu hoffen, dass Rüdiger, nach dem schmerzhaften Erlebnis von vorhin, kneifen würde, trat sie auf den Ball und drehte sich um. Spüli war hinter ihr hergehastet, Pommes lief sich frei. Spüli griff sie von hinten an, doch mit einer eleganten Bewegung ließ sie ihn ins Leere laufen und wartete auf Mücke, ja, sie lief ihm sogar mit dem Ball am Fuß entgegen, weg vom gegnerischen Tor, tunnelte ihn, lief um ihn herum, nahm den Ball wieder auf, drehte sich wieder um, täuschte links an und ging rechts vorbei wie Libuda. Mücke versuchte, sie abzugrätschen, aber da war sie schon längst weg, machte Spüli noch mal nass, stand vor dem Torwart, täuschte einen Schuss an, stieg jedoch über den Ball und haute das Ding hinter ihrer linken Ferse mit dem rechten Fuß ins Tor.

Nicht zu unrecht wertete Mücke dieses Manöver als Kampfansage. Wutentbrannt holte er den Ball aus dem Gebüsch, und es war klar, dass Pommes, Spüli, Rüdiger und ich jetzt Pause hatten. Das hier war eine Sache zwischen Mücke und dem rothaarigen Mädchen.

Wieder setzte er zu einem seiner Flügelläufe an, diesmal aber heftete sich das Mädchen an seine Fersen, und als er sich den Ball nur ein bisschen zu weit vorlegte, trat sie auf das Leder und nahm ihm das Teil vom Fuß. Mücke lief noch ein oder zwei Meter weiter, aber bevor er richtig begriffen hatte, was passiert war, hatte die Rothaarige schon den Ausgleich erzielt, diesmal mit einem humorlosen Spannstoß ins linke untere Eck. (Da die Pfosten aus abgebrochenen Zweigen bestanden, gab es übrigens keine oberen Ecken, was Weitschüsse in den Winkel unmöglich machte.)

»Okay, die nächste Bude entscheidet«, knurrte Mücke unvorsichtigerweise und startete seinen nächsten Angriff über den anderen Flügel. Tatsächlich gelang es ihm diesmal besser, das Spielgerät abzuschirmen, ja, er nahm seiner Gegenspielerin sogar ein oder zwei Meter ab und tauchte bedrohlich schnaufend vor meinem Tor auf. In seinen Augen war zu sehen, dass er mich, bei aller Freundschaft, mit dem Ball bis zur Straße pöhlen würde. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er die entscheidende Sekunde zögerte, um mich nicht zu verletzen, aber diese eine Sekunde reichte dem Mädchen, um mit Mücke gleichzuziehen und ihn dann seitlich sauber abzugrätschen. Sie traf den Ball, spielte also nicht foul, aber sie traf auch Mückes Beine, und ich weiß nicht, was ihr mehr Spaß machte. Mücke jedenfalls blieb liegen und schrie unflätige Schimpfwörter, doch das Mädchen hatte schon Spüli überlaufen, der dann einfach stehen blieb, weil es eh keinen Sinn hatte, und als sie vor dem Torwart stand, sagte sie nur: »Geh weg!«

Rüdiger trat zur Seite, das Mädchen legte den Ball genau auf die Linie, ging dann in die Hocke und schob ihn mit dem Hinterteil ins Tor. Dann holte sie Speichel tief aus ihrem Inneren hervor, rotzte auf den Boden und kam zu Mücke, der sich immer noch den Knöchel hielt. Sie baute sich neben ihm auf und sagte: »Steh auf, du Mädchen!« Dann ging sie zur Straße, rief noch »Lord, komm hierhin!« und verschwand hinter der nächsten Ecke. Wir sahen sie nie wieder und erfuhren nie ihren Namen.

Man kann nicht sagen, dass Mücke von diesem Tage an Mädchen wirklich verstand, aber er begegnete ihnen doch mit ein bisschen mehr Respekt.

 

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